Ein Sommertag am See
Ereignislosigkeit kann so schön sein: Für alle, die entschleunigen möchten, ist das Strandbad Obing der perfekte Ort.
Von Veronika Eckl
Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 191 am 18. August 2022
Irgendwo auf der Landstraße hinter Wasserburg kommt es auf, dieses Kindheitssommergefühl. Man zuckelt hinter einem Traktor durch Wald und Wiesen, lässt das Autofenster herunter, riecht Gras und Teer und sieht die Marterl vor den Bauernhöfen vorbeiziehen. Es ist die beste Zeit des Jahres, alles fühlt sich nach ewigen Ferien an, und zum großen Glück gehört jetzt noch eines: ein See. Ein See mit einem Steg, der unter den nackten Füßen ein bisschen sonnendumpf klingt und auf dem man Tagträumen oder von dem man mit Anlauf ins Wasser springen kann. ein See mit Liegewiese und Kiosk und alten, schattigen Bäumen.
Der Obinger See ist klein und liegt gegenüber des ebenfalls sehr überschaubaren Ortes mit Kirche und ein paar Wirtshäusern. Bis zum Chiemsee sind es von hier nur noch zehn Kilometer, aber wer will in der Hochsaison schon an den Chiemsee, wo die Touristen um Parkplätze und Caféstühle rangeln? Strandbad Obing dagegen: An einem Vormittag, an
dem die Kinder noch in die Schule müssen, lagern hier vor allem ältere Herrschaften und junge Mütter mit ihrem Nachwuchs am Ufer. Die Rentner rücken ihre mitgebrachten Liegen in den Schatten der Birken oder unter die blauen Sonnenschirme mit der Eis-Werbung. Enten im grünen Wasser und Bienen im Klee der Liegewiese sind den menschlichen Gästen gleichberechtigt. im Falle eines Bienenstichs mit anaphylaktischem Schock wird man hoffentlich von den Freiwilligen von der Wasserwacht gerettet,
die auf der Terrasse ihres Bootshauses gerade Kaffee trinken, einen kleinen Ratsch abhalten und dabei das Geschehen fest im Blick haben.
Es kündigt sich jedoch keine Katastrophe an, der See liegt platt und ereignislos da wie ein Tümpel. Was an diesem Morgen am meisten für Aufregung sorgt, ist die Temperatur: 22 Grad nur, motzen die Badegäste vor dem Schild an der Wasserwachtshütte, wobei sich die 22 im Lauf der Stunden irgendwann in 23 verwandeln.
Ereignislosigkeit ist ja das, wonach man sich am meisten sehnt in diesem seltsamen Sommer voller Katastrophen, und hier bekommt man sie. Die Welt schnurrt zusammen auf die Dreieinigkeit von Wasser, Himmel und Kirchturm, denn der Turm der gotischen Sankt-Laurentius-Kirche spiegelt sich im Wasser, als hätte hier irgendein Tourismusmanager mit einem Bildbearbeitungsprogramm nachgeholfen. Dreht man den Kopf ein kleines bisschen nach rechts, erblickt man Wald und Wiesen, dreht man ihn nach links, erspäht man Berge. Legt man ihn in den Nacken, sieht man am blauen Himmel die Wolken ziehen. Sehr viel mehr gibt es zum Glück auch nicht zu tun. Ein Besuch im Strandbad Obing ist eine Übung in Entschleunigung.
Meister in dieser Kunst der kontemplativen Langsamkeit sind die zwei älteren Herren, die vor dem Kiosk mit dem Rücken zur Wand auf einer Bierbank nebeneinandersitzen und einfach nur schauen. Ganz gemächlich trinken sie über Stunden hinweg ihr Bier, gelegentlich schieben sie eine Johannisbeerschorle ein, und nur ganz, ganz selten wechseln sie einen Halbsatz. Ob sie es wohl unpassend finden, dass der junge Pächter, der den Kiosk gerade übernommen hat, die alten Kabinen herausgerissen und stattdessen eine lounge unter dem Holzdach installiert hat? Mir doch wurscht, wer unter mir den Kiosk pachtet, sagt ihre Körperhaltung. Die anderen Einheimischen an den Tischen tragen erstaunlich oft Tätowierung und bestellen Pommes, Bier und Eis, wie es Brauch ist im Strandbad. Es gibt hier aber auf der Liegewiese auch noch die gute alte Kühltruhe zu bestaunen, die manch einer schon für ausgestorben hielt: Rentnerpaare picknicken andächtig Käsesemmeln, Gurkenscheiben und hartgekochte Eier. Ein Lob der Bescheidenheit! Abgesagte
Flüge nach Mallorca sind diesen Menschen herzlich egal, und sie brauchen auch keinen Kaffee aus Pappbechern in der Schlange am Flughafen, um sich beim Warten auf das Urlaubsglück abzulenken. es ist ja schon da, das Glück.
Bescheiden ging es hier am Obinger See eigentlich immer zu, das weiß Ludwig Bürger, der pensionierte Schulleiter und Heimatpfleger. Ursprünglich habe der See zu dem nahen Bauernhof gehört, der kürzlich zu einer Wohnanlage mit Eigentumswohnungen umgebaut wurde. Die Einheimischen badeten hier immer schon; Bürger selbst tauchte als Bub in der Nachkriegszeit nach den Waffen, die die Amerikaner bei ihrem Abzug im See entsorgt hatten: „Einmal hab ich eine Handgranate gefunden, das war eine Schau.“ In den Fünfzigerjahren kamen die Sommerfrischler, Münchner, Norddeutsche, die Arbeiter des nahen Chemiewerks Wacker. „Fast jeder Hausbesitzer hat damals sein Schlafzimmer
geräumt und es an die Gäste vermietet“, erzählt Bürger. Die blieben vierzehn Tage, bräunten ihre bleichen Leiber im Strandbad, schwammen im See und gingen abends ins Wirtshaus: „Man war wenig mobil, damals hatte ja kaum jemand ein Auto.“ Viele junge Leute hätten sich damals am See amüsiert, noch heute kündet auf der Liegewiese die „sorgende Mutter“, eine Skulptur des Obinger Holzschnitzers Ernst Hofstetter, von dieser Zeit, in der das Strandbad im Zentrum des Feriengeschehens stand und die einheimischen Burschen die Mädchen aus der Stadt heftig umwarben: Die dralle Dame im geringelten Badeanzug hat durch ihr Fernglas das Geschehen fest im Blick und kontrolliert, ob es auch gesittet zugeht.
Auch wenn heute noch junge Helden durch wagemutige Sprünge vom Steg ihr Publikum beeindrucken – viele Touristen sind inzwischen weltweit auf der Suche
nach größeren Attraktionen. Wer in Obing einen Tag am See verbringt, der hat wenig Aufregendes zu posten, ist dafür jedoch am Abend voll von Sonnenwärme,
weichgespült vom Wasser, ein bisschen matt vom Bier und sehr gelassen. Dieses große Gefühl endloser Sommerferien, hier ergreift es auch von Erwachsenen noch einmal Besitz. Schalten Sie ihr Handy aus, und sagen Sie es bloß nicht weiter.
Foto: Veronika Eckl